Vertragsstrukturen im Energiegroßhandel | Teil 1: Vollversorgung

By 20. Juni 2017Allgemein

Seit der Liberalisierung des Strom- und Gasmarktes und der damit verbundenen Ausweitung des Wettbewerbs ist die Bedeutung des Energiehandels in der Wertschöpfungskette im Energiesektor sukzessive gewachsen.

Zu den Marktteilnehmern am Energiegroßhandel gehören große Energiekonzerne, große und mittlere Stadtwerke, Industrie- und Handelsunternehmen sowie große Finanzinstitute. Nachfrager nach Energie können mittlerweile aus weit über 1.000 Energieanbietern auswählen.  Auf die zunehmende und differenzierte Nachfrage nach Energie sowie den zunehmenden Wettbewerb reagieren Energieversorger mit einem immer vielfältigeren Produkt- und Dienstleistungsangebot. Jedoch unterscheiden sich diese oft nur noch im Detail voneinander.

War vor der Liberalisierung der Vollversorgungsvertrag das vorherrschende Versorgungsmodell, konnten sich aufgrund der Entwicklung von Großhandelsmärkten weitere Modelle, wie die strukturierte Beschaffung und das Portfoliomanagement entwickeln.

Ziel dieser Serie ist es eine Einteilung der gängigsten Individualverträge sowie deren Charakterisierung. Die Kategorisierung der Vertragsarten kann auf unterschiedliche Weise erfolgenden, insofern ist die hier verwendete Einteilung nur eine von verschiedenen Möglichkeiten.

Abb. 1: Übersicht der individuellen Handels- und Lieferverträge im Energiemarkt

Im Rahmen dieser Blog-Serie werden daher in Teil 1 die Vollversorgung, in Teil 2 die komplexere strukturierte Beschaffung und in Teil 3 das Portfoliomanagement näher beleuchtet. Anschließend werden in Teil 4 die Dienstleistungen, welche häufig im Rahmen des Energiehandels und der Energielieferung angeboten werden, erläutert und in Teil 5  soll beispielhaft gezeigt werden, wie diese Verträge aufgebaut sind und wie diese abgerechnet werden können.

In unseren Erläuterungen beziehen wir uns auf den Handel im Strommarkt.

Grundlagen individueller Handels- und Lieferverträge

Energiehandel findet auf der Basis von individuellen Handels- bzw. Lieferverträgen statt, wobei die geschlossenen Handelsverträge Kaufverträge im Sinne des BGBs sind. Lieferverträge etablieren bei langfristigen Lieferungen aufgrund der anhaltenden (fortwährenden) Lieferbeziehung ein Dauerschuldverhältnis.

Energielieferung und -transport können zusammenfallen, müssen aber nicht, d.h. der Energiehändler ist nicht zwangsläufig auch der Transporteur (sog. Shipper).

Für die Energiehandelsverträge ist regelmäßig das BGB anzuwenden, des Weiteren gilt die Vertragsfreiheit. So können Laufzeit, Preise, Vertragsmodalitäten sowie Kündigungsfristen frei ausgehandelt werden. Typischerweise werden Energiehandelsverträge in der Großhandelsstufe zwischen Unternehmen geschlossen. Für Haushaltskunden, bzw. Tarifkunden kommen die Produkte des Energiegroßhandels i. d. R. nicht in Frage, da hier eine Belieferung im Rahmen der allgemeinen Anschluss- und Versorgungspflicht erfolgt, eine geringe Leistung benötigt wird, ein geringer Verbrauch vorliegt und einzelne Produkte Mindestverbrauchsmengen haben. Sondervertragskunden hingegen haben einen hohen Verbrauch, benötigen eine hohe Leistung und haben häufig weitere besonders Anforderungen an den Modus der Belieferung mit Energie.

Risiken im Energiehandel

Generell sind bei der Beschaffung von Energie zwei wesentliche Arten von Marktrisiken relevant, mit denen in verschiedenen Vertrags- und Preismodellen unterschiedlich umgegangen wird:

  • Preisrisiko: Im Lieferzeitraum können Energiepreise stark schwanken. Im Rahmen des Liefervertrags muss entschieden werden, welche Seite – Lieferant oder Kunde – dieses Risiko in welchem Ausmaß trägt. Spannend ist diese Frage deshalb, weil Preisschwankungen in beide Richtungen stattfinden können: Der Börsenpreis kann sinken und er kann steigen.
  • Mengenrisiko: Unabhängig von jeglicher Prognose kann der tatsächlich benötigte Energiebedarf von der Prognose abweichen. Die Frage ist hier, wer dieses Risiko – gerade auch im Zusammenhang mit festen Preisen – trägt: der Lieferant (der eventuell zu höheren Preisen Energie nachbeschaffen muss) oder der Energieabnehmer (der eventuell mehr oder weniger Energie benötigt als ursprünglich gedacht).

Darüber hinaus gibt es weitere Risiken, auf die hier jedoch nicht weiter detailliert eingegangen werden soll. Zu diesen Risiken zählen das Kreditrisiko (wer trägt das Risiko im Falle des Zahlungs- oder Lieferausfalls?), operative Risiken und rechtliche Risiken.

Die Vollversorgung

Den Anfang dieser Reihe macht die Vollversorgung, als einfachste Form der Beschaffung, bei der der gesamte Bedarf durch einen einzigen Versorger abgedeckt wird. Egal, wann eine Kunde Energie benötigt, egal, wie viel Energie der Kunde benötigt, der Lieferant stellt die Energie bereit. Neben der reinen Energielieferung umfassen derartige Verträge ggf. weitere versorgungsbezogene Leistungen wie die Netznutzung, Regelenergie oder die Bilanzierung. Der Preis setzt sich somit aus der Energielieferung, der Netznutzung, der flexiblen Energiebereitstellung und Aufschläge des Versorgungsunternehmens zusammen.

Vollversorgung lässt sich anhand einer Reihe unterschiedlicher Modelle bepreisen. Die Modelle unterscheiden sich im Wesentlichen in der Starrheit des Preises im Lieferzeitraum. Ein fester Preis schafft für Lieferanten und Energieabnehmer zwar einerseits Sicherheit (keine Überraschungen durch Preisschwankungen in der Lieferbeziehung), lässt aber andererseits Marktentwicklungen vollständig außen vor. Sinkende oder steigende Beschaffungspreise an der Börse z.B. schlagen sich bei einem festen Preis so nicht auf die Lieferbeziehung nieder.

Das kann für einen Kunden aufgrund des Ausschlusses des Preissteigerungsrisikos interessant sein, andererseits kann ein Kunde auf diese Weise auch nicht von sinkenden Börsenpreisen profitieren. Sämtliche derartige Effekte und Risiken trägt der Lieferant.

Festpreisvertrag

Beim Vollversorgungsvertrag wird oft nur ein Gesamtpreis vereinbart, der sich aus einem Arbeitspreis (ct/kWh) und einem Grundpreis (€/Monat o. €/Jahr) zusammensetzt. Der Arbeitspreis beinhaltet die Preisbestandteile der Energielieferung und der Grundpreis die versorgungsbezogene Leistungen. Diese Variante wird als Festpreisvertrag bezeichnet und stellt den Standard der Vollversorgung dar. Die Vertragslaufzeit beträgt ein bis drei Jahre.

Dieses Vertrags- bzw. Preismodell eignet sich für kleine bis mittlere Unternehmen, da kaum Marktwissen oder Personalressourcen für die Energiebeschaffung notwendig sind. Der Festpreis und das durch die Versorger getragene Mengenrisiko ermöglichen dem Unternehmen eine maximale Planungssicherheit. Aufgrund eines Festpreises sind die Anteile der einzelnen Preisbestandteile sehr intransparent und für den Kunden kaum nachzuvollziehen. Sowohl für den Lieferanten als auch für den Kunden liegt bei diesem Vertragstyp die Herausforderung im Wesentlichen im Preisänderungsrisiko: Es besteht die Gefahr, dass zum Fixierungszeitpunkt das Preisniveau am Markt zu hoch ist (schlechter Beschaffungszeitpunkt aus Sicht des Kunden) oder eine Preisentwicklung mit sinkenden Preisen. Der Kunde hat aufgrund der Stichtagsbeschaffung keine Möglichkeit der Risikodiversifizierung. Die Interessenlage des Lieferanten ist entsprechend umgekehrt.

Die folgende Abbildung zeigt ein Szenario, in dem zum Fixingzeitpunkt ein relativ niedriger Preis vereinbart wurde, der Börsenpreis in der Folge häufig und teilweise signifikant über dem vereinbarten Lieferpreis liegt. Es ist offensichtlich, dass der Energiebezieher in diesem Szenario sehr gut gestellt, der Lieferant entsprechend schlecht gestellt ist.

Abb.: Stichtagsbeschaffung des Festpreises

Vertrag auf Basis eines variablen Preises

Um das oben dargestellte Preisrisiko zu reduzieren, werden Strom- und Gasprodukte auf Basis von Preisformeln angeboten. Dabei kann die zu beschaffende Energiemenge als Gesamtmenge oder in Teilmengen fixiert werden. So können Kunden die benötigte Energie flexibler beschaffen und das Marktrisiko auf mehrere Bezugszeitpunkte verteilen. Eine marktübliche Preisformel ist z.B.:

α · PBase + β · PPeak + z = Formelpreis

PBase aktueller Preis des Börsenproduktes Base
PPeak aktueller Preis des Börsenproduktes Peak
α 1. Kann ein Gewichtungsfaktor  sein. α  ist umso größer je geringer die Stromabnahme in den Hauptverbrauchszeiten ist oder
2. Kann als Koeffizient weitere Aufschläge berücksichtigen
β 1. Gewichtungsfaktor: 1-α  = β oder
2. Kann als Koeffizient weitere Aufschläge berücksichtigen
z Aufschläge(in ct/kWh) des Lieferanten zur Kostendeckung und Risikoabsicherung

Durch Einsetzen der jeweils aktuellen Terminmarktpreise in die Formel wird der aktuelle Bezugspreis ermittelt. Erscheint der momentane Terminmarktpreis günstig, kann der Strom zum Formelpreis (Bezugspreis) bezogen werden.

Beispiel α und β sind gewichtet:

α = 0,7 und  β = 0,3

Fixingzeitpunkt PBase €/MWh PPeak €/MWh Formelpreis €/MWh
02. Sep 28,82 38,98 33,88
24. Sep 30,99 41,65 34,19
11. Nov 32,00 44,12 35,64

Der Bezugspreis BP ist der Durchschnitt der Formelpreise.

BP = 33,88 + 34,19 + 35,64 = 103,71 : 3 = 34,57 €/MWh

Im Lieferzeitraum wird die Energie dann flexibel geliefert und zum ermittelten Bezugspreis abgerechnet.

Horizontales Tranchenmodell

Der Preis kann allerdings auch über den mengen-gewichteten Durchschnitt gebildet werden. Diese Möglichkeit besteht im Rahmen des horizontalen Tranchenmodells. Im Beschaffungszeitraum können strukturgleiche Tranchen (z.B. nur Jahresprodukte) zu günstigen Zeitpunkten gefixt werden. Dabei wird häufig die Anzahl der Tranchen (i.d.R. nicht mehr als 10) vorab vertraglich festgelegt. Am Ende des Beschaffungszeitraumes wird der Bezugspreis als mengen-gewichteter Durchschnittpreis ermittelt. Die Energielieferung erfolgt dann flexibel und wird zum Bezugspreis abgerechnet.

Beispiel: Fixierung von 4 Tranchen

Fixingzeitpunkt Tranchenmenge in MWh Preis in €/MWh Gesamtsumme in €
02. Sep 1.700,00 28,82 48.994,00
24. Sep 1.700,00 30,99 52.683,00
11. Nov 1.700,00 32,00 54.400,00
03. Jan 1.700,00 20,67 35.139,00
 ∑ 6.800,00   191.216,00
  Bezugspreis = ∑ Gesamtsumme /  ∑ MWh 28,12 €/MWh

Abb. 3: Mengengewichtete Preisbildung mit horizontalen Tranchen

Indizierung

Eine weitere Variante der variablen Preisbildung ist die Indizierung. Hierfür wird der Bezugspreis an einen Börsenpreis oder sog. Indexpreis gekoppelt. Der Preis für den Liefermonat ergibt sich in diesem Modell aus dem Durchschnitt der Notierungen des Preisbildungszeitraums und ist innerhalb eines vertraglich vereinbarten Zeitraums, z. B. des Liefermonats, gültig. Folglich variiert der Energiepreis im Lieferzeitraum. Die sich daraus ergebenden Preisschwankungen sind im unteren Diagramm als treppenförmige Preisentwicklung dargestellt.

Abb. 4: Bildung des Indexpreises

Abb. 5: Preisentwicklung des Indexpreises im Lieferzeitraum

Ergänzende Vertragsklauseln

Da der reale Verbrauch oft vom prognostizierten Verbrauch abweicht, können ergänzende Klauseln, wie die Take-or-Pay-Klausel darüber hinaus zusätzlich das vorhandene Mengenänderungsrisiko begrenzen. Hierbei verpflichtet sich der Kunde, eine bestimmte Mindestmenge (z.B. 80% der vereinbarten Liefermenge) auf jeden Fall abzunehmen.

Ausgangspunkt der Mindestmenge ist dabei i. d. R. der aufgrund historischer Lastprofile prognostizierte Strombedarf. Liegt der tatsächliche Energiebedarf dann unterhalb der definierten Schwelle, wird trotzdem die vereinbarte Mindestmenge abgerechnet. Auf diese Weise wird das Mengenänderungsrisiko auf den Stromabnehmer übertragen. Um auch dieses Risiko wiederum für den Kunden zu begrenzen, kann die ToP-Klausel erweitert werden. Kunden können mit einer entsprechenden Nachbezugs- und Rückverkaufsregelung bei einer Über- bzw. Unterschreitung falsch prognostizierte Mengen am Markt kaufen oder verkaufen. Nachbezugs- und Rückkaufregelungen beinhalten häufig für den Stromabnehmer bessere Konditionen als reine Marktkonditionen bieten würden.

Abbildung 6: Take-Or-Pay-Klausel

Zusammenfassung

Damit sind die wesentlichen Vertragsmodelle der Vollversorgung dargestellt. Generelles Ziel der klassischen Vollversorgung ist aus Sicht des Kunden eine risikoarme Beschaffung mit langfristiger Planungssicherheit. Durch die Stichtagsbeschaffung zum Festpreis ist die Vollversorgung jedoch recht unflexibel. Der Kunde kann auf diese Weise zwar Preissteigerungsrisiken weitgehend ausschließen, kann aber andererseits von Marktentwicklungen wie sinkenden Preisen nicht profitieren.

Um diese starren Regelungen zumindest teilweise zu flexibilisieren, lassen sich verschiedene Preismodelle und ergänzenden Vertragsklauseln eingesetzen. Das kann in der Konsequenz dazu führen, dass die Vollversorgung flexibler gestaltet wird und das Risiko eines zu hohen Preises reduziert werden kann. Letzteres wird jedoch dann aber vom Kunden auch mit einem gewissen Preissteigerungsrisiko bezahlt.

Insgesamt handelt es sich bei der klassischen Vollversorgung, ergänzt oder nicht ergänzt um weitere Flexibilisierungsregelungen, um eine relativ starre Gestaltung des Energiebezugs. Eine größere Auswahl an Möglichkeiten der Flexibilisierung bietet jedoch die strukturierte Beschaffung bzw. das Portfoliomanagement.

Im 2. Teil der Serie werden daher die verschiedenen Vertragsmodelle der strukturierten Beschaffung erläutert.

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